Wunderschöne Weihnachtszeit: 10.Dezember

Polly hilft der Großmutter von Astrid Lindgren
Ich wünschte, ihr könntet das Haus sehen, in dem Polly wohnte. Es war so klein und niedlich, dass man es beinahe für ein Märchenhaus halten konnte, wisst ihr, so ein Märchenhaus, in dem sonst Zwerge und Kobolde wohnen. Das Haus lag an einer engen, abfallenden Kopfsteinpflasterstraße im allerärmsten Teil der Stadt. Es war wirklich eine arme Straße, und die anderen Häuser dort waren nicht viel feiner als Pollys Haus.

Pollys Haus – was sage ich? Natürlich war es nicht Polly, die in diesem Haus schaltete und waltete. Das tat Großmutter. Großmutter, die Bonbons kochte und sie dann jeden Sonnabend auf dem Markt verkaufte. Ich nenne es aber trotzdem Pollys Haus. Wenn man vorbeiging, konnte man Polly auf der Steintreppe zur Straße hin sitzen sehen. Sie hatte die braunsten und fröhlichsten Augen und die rosigsten Wangen, die wohl jemals irgendein Kind gehabt hat. Und dann sah sie – wie soll ich sagen? –, sie sah so patent aus.


Ja, so patent! Deswegen hatte ja ihre Großmutter auch den Einfall gehabt, sie „Polly patent“ zu nennen. Großmutter sagte, Polly habe schon damals, als sie drei Monate alt war und in einem Körbchen lag, patent ausgesehen. Das Körbchen war eines Tages bei Großmutter abgestellt worden mit dem Bescheid, sie möchte sich um die Kleine kümmern, weil kein anderer da sei, es zu tun.

Oh, das Haus, wie war es niedlich! Zwei kleine Fenster gingen auf die Straße hinaus, und dort konnte man oft eine Nasenspitze und zwei fröhliche braune Augen sehen. Hinter dem Haus, gut beschützt durch einen hohen grünen Zaun, lag ein kleiner Garten – wenn man einen Platz, auf dem nur ein Kirschbaum und einige Stachelbeersträucher stehen, Garten nennen kann. Es gab natürlich auch ein kleines saftig grünes Stückchen Rasen dort, und da saßen im Frühling, wenn es warm und sonnig war, Polly und die Großmutter und tranken Kaffee. Das heißt: Großmutter trank den Kaffee. Polly tauchte nur Würfelzucker in Großmutters Kaffeetasse. Und dann warf sie den Spatzen, die auf dem Gartenweg umherhüpften, Brotkrumen zu.

Polly fand Großmutters Haus wunderschön, wenn es auch klein war. Abends, wenn sie auf das Küchensofa gekrochen war, wo sie schlief, und Großmutter am Küchentisch saß und Bonbonpapier zuschnitt, sprach Polly mit heller und klarer Stimme ihr Abendgebet. Ein Engel geht, von Gott gesandt, ums Haus, zwei Kerzen in der Hand. Er trägt ein Buch, er wirkt mir zu. Jetzt schlaf ich ein in guter Ruh.

Polly war sehr froh, dass ein Engel während der Nacht um ihr Haus ging. Es war so beruhigend. Sie war nur ein wenig in Sorge, wie er das alles tragen konnte, zwei Kerzen und ein Buch. Sie hätte sehr gern gesehen, wie er das machte und wie er dabei auch noch winken konnte. Polly sah oft aus dem Fenster in den Garten. Vielleicht konnte sie doch einmal den Engel sehen. Bis jetzt war es ihr noch nie geglückt. Sicher kam er immer erst, wenn Polly schon eingeschlafen war.

Als das geschah, wovon ich erzählen will, war Polly noch nicht sieben Jahre alt. Was geschah, war nicht besonders merkwürdig. Großmutter rutschte auf dem Küchenfußboden aus und verletzte sich ein Bein. Merkwürdig war das nicht, denn so etwas kann jeden Tag passieren. Aber es war nur noch eine Woche bis Weihnachten.

Denkt nur, was wurde aus den vielen Bonbons, die auf dem Weihnachtsmarkt verkauft werden sollten? Wer sollte das machen, wenn Großmutter im Bett lag und das Bein nicht bewegen konnte, ohne gleich vor Schmerzen zu stöhnen? Wer sollte den Weihnachtskuchen backen und die Weihnachtsgeschenke einkaufen und das Haus weihnachtsfein machen? „Das mache ich“, sagte Polly. Ich habe ja gesagt, sie war ein patentes Kind.

„Achachach“, sagte Großmutter in ihrem Bett, „gutes Kind, das kannst du doch nicht. Wir werden Frau Larsson fragen müssen, ob sie über Weihnachten auf dich aufpassen will. Und dann werden wir sehen, ob ich nicht ins Krankenhaus kommen kann.“
Da sah Polly patenter aus als je zuvor. Sollte sie Weihnachten bei den Larssons sein? Und Großmutter im Krankenhaus? Sollten Großmutter und Polly nicht Weihnachten so feiern, wie sie es gewohnt waren? Doch, das sollten sie, sagte Polly, bald sieben Jahre alt und mit den braunsten und fröhlichsten Augen der Welt. Und dann begann sie mit dem Weihnachtsgroßreinemachen.
Sie musste natürlich Großmutter fragen: Wie macht man Weihnachtsgroßreinemachen?

Polly hatte nur eine schwache Vorstellung davon, dass man zuerst einmal das ganze Haus auf den Kopf stellte, sodass die Möbel in wüstem Durcheinander herumstanden und alles so ungemütlich wie möglich wurde. Dann stellte man alles wieder zurecht, und es war Weihnachten. Großmutter meinte: „In diesem Jahr nehmen wir es mal nicht so genau. Wir kümmern uns nicht darum, die Fenster zu putzen.“ Davon aber wollte Polly nichts hören. Ohne saubere Gardinen konnte gar nicht Weihnachten sein, und saubere Gardinen konnte man doch nicht vor schmutzige Fenster hängen. Frau Larsson kam und half ein bisschen. Sie schrubbte den Fußboden in der kleinen Küche und in dem kleinen Zimmer. Sie putzte auch die Fenster. Aber alles andere machte Polly.

Ihr hättet sehen sollen, wie sie umherlief mit einem Tuch um den Kopf und dem Besen in der Hand! Sie sah unglaublich patent aus. Sie steckte saubere Gardinen auf. Sie legte Flickenteppiche auf den Küchenfußboden und staubte alle Möbel ab. Und zwischendurch musste sie alles liegen lassen und Kaffee für Großmutter kochen und Wurst und Kartoffeln braten. Im Herd musste sie selber Feuer anmachen. Ein Glück, dass es ein so guter Herd war! Polly stopfte das Zeitungspapier und das Holz hinein und blies. Und dann horchte sie aufgeregt, ob es knisterte. Und wie es knisterte. Großmutter bekam ihren Kaffee, und sie wiegte den Kopf hin und her und sagte: „Mein gutes Kind, wie könnte ich ohne dich fertig werden!“ Und Polly saß auf der Bettkante, einen großen Schmutzfleck auf der Nase, und tauchte ein Stück Zucker in Großmutters Kaffeetopf, bevor sie wieder ans Reinemachen ging.

Ja, aber nun die Bonbons, die schon fertig waren und auf dem Markt verkauft werden sollten. Wer sollte das machen? Polly und kein anderer! Aber Polly konnte doch nicht rechnen und die Bonbons auch nicht auf der kleinen Waage abwiegen, so wie Großmutter es tat, wenn sie in ihrem Bonbonstand auf dem Markt war. Aber Polly wusste, wie ein Fünfziger aussah. Das wusste sie! Großmutter musste sich im Bett aufrichten und die Bonbons in Tütchen einwiegen. Hundert Gramm in jedes Tütchen. Das wurden genau Fünfzigertütchen. Drei Tage vor Heiligabend war Weihnachtsmarkt. An dem Morgen war Polly früh auf, und Großmutter bekam ihren Kaffee ans Bett. „Gutes Kind“, sagte Großmutter, „es ist doch so kalt. Du frierst dir die Nase ab.“

Da lachte Polly nur. Sie war schon fertig, fertig für ihr großes, seltsames Bonbonabenteuer. Und wie sie angezogen war! Zwei dicke Jacken unter dem Mantel und die Pelzmütze heruntergezogen bis über die Ohren und einen dicken Wollschal um den Hals geschlungen und große rote Handschuhe an und dann Großmutters riesige Strohschuhe über ihren Stiefeln – wegen des Frostes. Und an ihrem Arm hing der Korb, voll von Bonbons. „Auf Wiedersehen, Großmutter“, sagte sie und ging in die Winterfinsternis hinein. Viele Menschen waren schon unterwegs auf den Straßen. Das war auch kein Wunder, denn es war Weihnachtsmarkt.

Es war wirklich kalt. Der Schnee knirschte unter den Strohschuhen, als Polly zum Markt ging. Aber drüben im Osten begann der Himmel herrlich rot zu werden. Es würde einen schönen Tag geben.
Frau Larssons Mann war so nett gewesen, Großmutters Stand am gewohnten Platz aufzubauen. Polly brauchte nur die Bonbontüten aufzustellen. Die anderen Marktfrauen starrten Polly verwundert an. „Hat Matilda denn den Verstand verloren? Soll die Kleine jetzt auf dem Markt stehen?“, fragten sie. „Ja, sie soll“, sagte Polly patent. Wie Rauch stand der Atem vor ihrem Mund, und ihre Augen leuchteten vor Eifer, als sie die Tüten aufstellte.

„Das ist doch wohl die kleinste Marktfrau, die ich je gesehen habe“, sagte der Bürgermeister, als er auf dem Weg zum Rathaus vorbeikam. Er kaufte zwei Tüten Bonbons und gab Polly ein blankes Einkronenstück. „O nein“, sagte Polly. „Ich muss zwei Geldstücke haben. Zwei Fünfziger müssen es sein!“ Da lachte der Bürgermeister und suchte nach zwei Fünfzigern. „Hier hast du sie“, sagte er. „Und die Krone kannst du auch behalten, du kleines patentes Kerlchen.“ Aber das wollte Polly nicht. „Ich muss zwei Fünfziger haben“, sagte sie. „Einen für jede Tüte. Das hat Großmutter gesagt.“ Und schob patent die Krone zurück.

Viele Käufer kamen zu Polly. Alle wollten sie von der allerkleinsten Marktfrau kaufen. Großmutters Bonbons, rot und weiß, süß und herrlich, waren aber auch die besten in der ganzen Stadt. Polly hatte eine Zigarrenkiste, in die sie das Geld hineinlegte, und es klapperte schon ganz schön. Aber nur von Fünfzigern. Andere Geldstücke erkannte Polly nicht an. Die anderen Marktfrauen wurden beinahe neidisch, als sie sahen, welch ein großartiges Geschäft Polly machte. Polly selbst war so froh und ausgelassen, dass sie kaum stillstehen konnte. Ha, auf so etwas würde sie sich werfen, Millionen, viele Millionen Bonbons würde sie kochen und dann jeden Tag auf dem Markt stehen!

Großmutter lag zu Hause in ihrem Bett und machte gerade ein Schläfchen, als Polly angestürmt kam und den Inhalt der Zigarrenkiste auf der Decke ausschüttete. Und der Korb war leer! Nicht ein einziger Bonbon war mehr da. „Gutes Kind“, sagte Großmutter, „wie könnte ich ohne dich fertig werden.“

Und dann das mit den Weihnachtsgeschenken! Großmutter hatte ja nichts im Voraus kaufen können. Sie hatte bis nach dem Weihnachtsmarkt damit warten wollen. Vorher hatte sie doch kein Geld! Nun lag sie da und konnte sich nicht rühren. Und Polly, die sich so sehnlich eine Puppe wünschte! Nicht irgendeine Puppe – nein, die süßeste Puppe der Welt! Söderlunds in der Hinteren Kirchgasse hatten sie. Viele Male hatten Großmutter und Polly sie sich angesehen. Und ganz heimlich hatte Großmutter schon Fräulein Söderlund gebeten, diese Puppe bis nach dem Weihnachtsmarkt zurückzulegen. Die Puppe hatte ein entzückendes Spitzenkleidchen, konnte schlafen und Mama sagen und war überhaupt ohne Frage die herrlichste Puppe, die es gab.

Großmutter konnte doch nicht Polly losschicken, damit sie sich ihr eigenes Weihnachtsgeschenk kaufte. Ja, da war guter Rat teuer. Aber was dachte sich Großmutter aus? Sie schrieb einen Zettel an Fräulein Söderlund, einen Geheimzettel. „Geheim“ stand groß darauf.

Eigentlich war das überflüssig, denn Polly konnte ja sowieso noch nicht lesen. Mit dem Zettel in der Hand lief Polly zu Söderlunds. Fräulein Söderlund las den Zettel lange und sorgfältig. Und dann durfte Polly in den Raum hinter dem Laden gehen, dorthin, wo es so geheimnisvoll roch. Nachdem sie da ein Weilchen gesessen hatte, kam Fräulein Söderlund, gab ihr ein großes Paket und sagte: „Geh jetzt hiermit direkt zur Großmutter. Und verlier das Paket nicht!“ O nein, das Paket verlor Polly nicht. Sie drückte nur ein bisschen daran. Sie hoffte ja, es wäre die Puppe, aber ganz sicher konnte man nicht sein.

Polly kaufte für Großmutter auch ein Weihnachtsgeschenk. Ein paar feine Fingerhandschuhe. Die hatte sich Großmutter schon lange gewünscht. War da jemand, der geglaubt hatte, dass es bei Polly und ihrer Großmutter kein richtiges Weihnachtsfest geben würde? In diesem Fall wünschte ich nur, er hätte am Weihnachtsabend einmal durch eins der kleinen Fenster in Pollys Haus hineingeschaut. Dann hätte er die sauberen Gardinen gesehen und die Flickenteppiche auf dem Boden und den schönen Weihnachtsbaum, der dicht bei Großmutters Bett stand. Polly hatte ihn selbst auf dem Markt gekauft und ihn mit Lichtern und Kugeln und Äpfeln und Nüssen geschmückt. Er hätte dann auch gesehen, wie Polly bei Großmutter auf dem Bettrand saß und wie die Weihnachtsgeschenke auf Großmutters Bettdecke lagen und wie Pollys Augen leuchteten, als sie das Paket öffnete und die Puppe sah. Vielleicht leuchteten sie noch mehr, als Großmutter ihr Paket aufmachte.

Und auf dem großen runden Tisch brannten die Kerzen in den roten Leuchtern. Da stand auch das ganze Festessen, das Polly zubereitet hatte. Natürlich hatte Großmutter ihr erklärt, wie sie es machen musste. Und Polly sang viele Weihnachtslieder, und Großmutter nickte mit dem Kopf und sagte: „So ein gesegnetes Weihnachtsfest!“

Als Polly am Weihnachtsabend endlich auf dem Küchensofa lag, war sie so müde, dass sie am liebsten auf der Stelle eingeschlafen wäre. Mit ziemlich schläfriger Stimme stotterte sie das Gebet von dem Engel, der ums Haus geht, und warf noch einen hastigen Blick aus dem Fenster in den Garten. Es schneite draußen, es war strahlend weiß.

„Großmutter!“, rief sie. „Weißt du, dass der ganze Garten voller Engel ist?“ Großmutter lag zwar im Zimmer, und das hatte nur Fenster zur Straße, aber sie sagte: „Ja, ja, gutes Kind, der ganze Garten ist voller Engel.“ Und dann schlief Polly ein, ihre Puppe im Arm.

© Verlag Friedrich Oetinger, Hamburg. Aus dem Schwedischen von Karl Kurt Peters.


Hier findet ihr meinen gesamten Adventskalender: Wunderschöne Weihnachtszeit

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